Das Kaffeetassenprinzip
„Diese Stadt macht mich kaputt, ich zerbreche an ihr“, hatte sie gesagt und dabei die Augen ver-dreht. „Alles, was ich sehe, ist der Dreck auf meiner Seele, der immer dichter wird. Und du kannst nichts mehr dagegen tun.“ Dann hatte sie sich im Badezimmer eingeschlossen und war lange Zeit nicht mehr hinausgekommen. Durch die Tür hatte er sie weinen hören. Weil er es nicht ertragen konnte, war er in die Küche gegangen, um Kaffee aufzusetzen. Helfen konnte er ihr schon lange nicht mehr. Es kamen nur noch leere Worte aus ihm heraus, die ihr nichts mehr bedeuteten. Die Stadt und die Erfahrungen des letzten Jahres hatten sie beide verändert und das wusste er genauso gut wie sie – er sagte es nur nicht offen.
Während seine Finger den Rand der Kaffeetasse nachzeichneten und er sich geduldig neben der Kaffeemaschine aufstellte, hörte er den Schlüssel in der Badezimmertür und kurz darauf den der anderen Tür – die zum Schlafzimmer, die die einzige neben der des Badezimmers war, die man noch abschließen konnte. Als er durch das Schlüsselloch spionieren wollte, stellte er enttäuscht und trau-rig fest, dass sie eine Boxershorts von ihm über die Klinke gehängt hatte, um eben diese Spionage zu verhindern. Er schlich zurück in die Küche, wo die Maschine mit leisen, sanften Schüben die letz-ten Tropfen durch den Filter drückte. Er konnte seine Freundin vor dem inneren Auge sehen, wie sie mit angezogenen Beinen nahe am Rand auf dem Bett saß und erfolglos versuchte, die Tränen zu-rückzuhalten. Es wäre wohl nur ein Windhauch nötig gewesen, um ihre zarte Gestalt wie eine Feder vom Rand fort in die Laken zu drücken.
„Ein leichter Windhauch“, murmelte sie in sich gesunken und starrte auf das Bild auf der Kom-mode. Sie und er, in vertrauter Zweisamkeit, hinter ihnen das tosende Meer im Frühling. Beide hat-ten sie den Anorak von Aldi getragen, der im Angebot gewesen war. Das Bild war bei näherer Betrachtung verpixelt – sie hatten es mit der Kamera in ihrem Handy aufgenommen und dann über die Druckfunktion des Drucker auf Spezialpapier ausdrucken lassen –, damals, vor einem Jahr, als die Welt für sie noch bunt gewesen war. Es war ihr erster gemeinsamer Urlaub gewesen und sie hat-ten große Pläne für sich in ihren Köpfen getragen. Als er mit seinem Bruder telefoniert hatte, konnte sie hören, wie er es zusammengefasst hatte: „Haus bauen, Baum pflanzen, Familie gründen!“ Ja, sie wollten sesshaft werden, wollten das jugendliche Leben der Leichtsinnigkeit hinter sich lassen und in das neue Leben der Zusammengehörigkeit eintreten. Jetzt lebten sie in einer Mietwohnung, hat-ten einen Ficus neben dem Fernseher stehen – der Rest war schwarz.
„Ich liebe dich“, hatte er ihr ins Ohr geflüstert. Er hatte es ernst gemeint und sie hatte ihm ge-glaubt. Dann waren sie in das Hotel gegangen und waren einige Stunden dort geblieben. Für sie war es der beste Sex seit langer Zeit gewesen und auch er schien zu diesem Zeitpunkt der glücklichste Mann auf Erden gewesen zu sein. Auf der Rückfahrt, als sie im Auto saßen und dem Urlaub hinterher trauerten, hatte sie den Kopf in seinen Schoß gelegt und sich sehr sicher gefühlt. Ihr Bauch hatte leicht geschmerzt. Sie hatten keine Zeit für das Frühstück gehabt, weil er dem Rückreisestau auf der Autobahn hatte zuvorkommen wollen.
Jetzt, ein Jahr später, schien alles ganz anders zu sein. Entschlossen nahm sie den Koffer vom Schrank und klappte ihn majestätisch auf. Es brauchte seine Zeit, um ihre Kleidung von seinen zu trennen, denn sie hatten einen gemeinsamen, unaufgeräumten Schrank, der im Chaos versank, aber den sie nie aufräumen wollten, da es ihr Chaos war. Sie liebten ihr Chaos. Beim Packen beglei-tete sie leise Musik, die durch die verschlossene Tür drang.
Er hatte sich die Tasse mit in das Wohnzimmer genommen und auf die Couchanrichte gestellt, während er sich an der Stereoanlage zuschaffen machte. Er hatte ein einfaches Modell kaufen wol-len, doch sie hatte auf eines dieser Wunderdinger bestanden, mit dem man alle möglichen gebrann-ten Formate abspielen konnte. Die CDs musste man immer noch selbst einlegen und starten und deshalb hatte er sich nie über das Wunderding freuen können. „Wenn du mich beeindrucken willst, geh in die Küche und spül das Geschirr“, hatte er die Anlage angeschrieen, als diese auch nach etli-chen Versuchen seine geliebte CD von Perl Jam nicht hatte wiedergeben wollen.
Um ihn herum erstrahlte das Rot des Zimmers. Wegen der schönen Farbgebung im Frühjahr, wenn die Sonne noch nicht so hoch am Himmel steht und durch das Fenster scheint und das Wohn-zimmer scheinbar zum Brennen bringt, war es sein Lieblingsraum in der Wohnung. Er hatte gehört, dass die Vermieterin, die er nur ein einziges Mal zu Gesicht bekommen hatte, jeweils ein Zimmer in den zwölf Wohnungen des Hauses rot hatte streichen lassen. Sicher war, dass in dem Mietvertrag stand, dass das rote Zimmer nicht in seiner Grundstruktur verändert werden durfte. „Der Mieter ver-sichert, den rotgestrichenen Raum in der Wohneinheit nicht farblich oder baulich in seiner Grund-struktur zu verändern. Sollten sich Ausbesserungen nicht vermeiden lassen, ist der Mieter verpflichtet, diese Arbeiten durch die vom Vermieter anerkannten Arbeitskräfte verrichten zu las-sen.“
Draußen zogen Wolken vorbei. Die Welt hört sich nicht auf zu drehen, nur weil zwei Personen Probleme miteinander haben, dachte er und trank einen Schluck aus seiner Tasse. Im Gegenteil, es kam ihm sogar so vor, als drehe sie sich schneller, um ihnen weniger Zeit zu geben, über die ganze Situation nachzudenken, denn Entscheidungen solcher Art sollte man am besten mit seinem Herzen treffen und den Verstand nur in Notfällen dazu benutzen. „Liebe kann man nicht denken, sondern nur fühlen“ hatte er einmal in einer bunten Frauenzeitschrift gelesen. Das stimmt, hatte er sich ge-dacht und zustimmend mit dem Kopf genickt.
Tränen tropften auf ihren Bauch. Mit einer Hand strich sie darüber, als wollte sie mit jeder Um-drehung einen Tag nach dem anderen ungeschehen machen. „Wenn ich doch nur die Zeit zurück-drehen könnte“, schluchzte sie für sich selbst und schaute zur Tür. Vielleicht würde sie mit ihm darüber reden, später, wenn sie selbst wieder zu sich gefunden hatte. Packen und weglaufen nutzt ja nichts, dachte sie sich und dachte an früher. Sie waren so glücklich gewesen, dass es schon fast an ein Wunder herangekommen war. Alle Ampeln in ihrem Leben standen auf Grün und mit voller Fahrt hatten sie in ihre gemeinsame Zukunft lenken wollen. Und dann dieser Unfall.
Wie Fetzen einer längst vergessenen Welt blitzten die Bilder vor ihrem inneren Auge auf. Sie sah sich mit den Einkaufstaschen und der dicken Mütze auf dem Kopf, die er ihr an einem ihrer Ge-burtstage geschenkt hatte. Da war wieder die Kreuzung mit den Baustellenampeln, an die man sich eigentlich halten sollte. Aber sie war ja klüger gewesen! Auf alles hatte sie in dieser Zeit eine Antwort gewusst – so wie auch er! Beide hatten sie sich gegenseitig mit ihrer Besserwisserei ausgestochen, jeder wusste immer noch ein Stück weit mehr als der andere. Als sie dann am Boden lag und blute-te, wusste sie gar nichts mehr. Sie schrie nach ihm, doch er war in der Wohnung. Sie war fort gegan-gen, hatte ihm gesagt, sie müsse einkaufen. Auf dem Rückweg vom Supermarkt hatte sie oft an den Mann denken müssen, den sie liebte. Und doch wusste sie, dass es falsch gewesen war, ihm zu sa-gen, sie müsse einkaufen.
Seine Gedanken schweiften ab, als er aus dem Fenster den Wolken hinterher sah. Er machte sich Sorgen um ihre Beziehung. Es war schwer in den letzten Wochen gewesen. Beide hatten sie sich mehrmals versichern müssen, dass alles in Ordnung sei, doch wussten auch beide um die Schwere in ihrem gemeinsamen Leben. Es gab Momente, da hatte er eine Ahnung, die ihm das Fürchten lehr-te. Wenn er allein in der Küche saß, dachte er oft darüber nach, was geworden wäre, wenn sie da-mals nicht einkaufen hätte gehen wollen. Wären sie nach wie vor glücklich und unbekümmert? Oder hatte das Schicksal es anders mit ihnen gemeint und ihnen eine Art pauschale Bürde aufgelastet? Vielleicht wäre kein Unfall passiert, aber denkbar wäre etwas anderes gewesen. Zu oft hatte er sie telefonieren hören.
Mit einem Klirren zersprang die Tasse an der roten Wand. Der Kaffee ergoss sich in Rinnsalen Richtung Fußleiste. Mit beiden Händen fuhr er sich durch das Gesicht und dann durch seine Haare. Als sie plötzlich in der Tür stand, erschrak er.
„Was ist passiert?“, fragte sie besorgt und schaute traurig auf die Scherben an der Wand.
„Ich hab die Tasse gegen die Wand geworfen“, erläuterte er nüchtern die Situation, ohne sie wirk-lich wahrzunehmen.
„Warum?“, fragte sie mechanisch nach und sammelte die Scherben auf. „Das war doch eine schöne Tasse.“
„Scherben sollen doch Glück bringen“, meinte er und rauschte an ihr vorbei.
„Wo gehst du hin?“
„Einkaufen“, rief er aus dem Flur und knallte die Tür hinter sich zu.

Kommentieren