Der Tag, an dem Ben Lianes Lachen verlor (Teil 3)
Am Donnerstag, 5. Okt 2006 im Topic 'Laengertexte'
Teil 1...
Teil 2...
Der Regen peitschte Ben ins Gesicht, er hielt die Augen zu kleinen Schlitzen geschlossen, während er auf den Bahnschienen in die Richtung rannte, in die Liane verschwunden war. Alle paar Minuten wurde er von einer herannahenden Bahn zur Seite geklingelt und vom Fahrer wütend angeschaut, doch das war ihm egal. Er rannte seiner Liebe hinterher, die alles für vergänglich zu halten schien. Der zerknüllte Zettel von der Wohnungstür presste sich durch den Druck seiner Faust in das zarte Hautgeflecht seiner Hand. „Alles ist vergänglich, Ben“, hatte Liane gesagt und ihre Worte zeigten ihm, dass er ihre Liebe ganz und gar nicht für vergänglich hielt.
Doch er wusste es auch besser. Einmal zuviel hatte er die bedrohlich wirkende Seite im Verlauf seines Browsers gefunden und einmal zuviel hatte er den beunruhigenden Artikel in diesem Nachrichtenmagazin gelesen. Einmal zuviel und immer noch einmal zu wenig, denn wenn er lernte zwischen den Zeilen zu lesen, würde er vielleicht auch Liane verstehen lernen. Das erste und einzige Mal vielleicht. Vielleicht. Es gab mehr als genug von ihnen und den ganzen anderen Vermutungen. Ben wollte sich lieber mit Auf jeden Falls beschäftigen oder auch mit eindeutigen Jas. Doch was ihm blieb waren nur die Vielleicht und die Möglicherweise.
Er wusste es. Er ahnte mehr. Und er verstand letztlich gar nichts.
In dem Jahr, in dem Ben Liane kannte und auch liebte, waren immer wieder Momente versteckt, in denen er sie nicht kannte, in denen Liane eine Fremde war. Als ihre Nase zu bluten begann, begannen seine Sorgen. Sie verschwand dann immer im Badezimmer und ließ sich nicht mehr blicken. Am Ende kam sie heraus, als sei nichts gewesen, die Nase frisch gepudert, die Haare gemacht, als würde sie zu einer Feier aufbrechen wollen. Ben hatte die kleine Schatulle im Medizinschränkchen entdeckt, sie war abschließbar und somit unerreichbar für ihn. Einmal hatte er sie gefragt, hatte gehofft, mit ihr darüber reden zu können, hatte gehofft, dass man gemeinsam eine Lösung für Probleme fand, doch Liane hatte nur gelacht und ihn nicht ernst genommen. Als er nachgebohrt hatte, war sie laut geworden und hatte ihn angeschrieen, dass er sich nicht zu sehr in ihr Leben einzumischen hätte, er würde damit nur alles kaputtmachen. Seitdem hatte er aus Angst sie zu verlieren, nichts mehr gesagt über die Schatulle und das Nasenbluten und ihre Stimmungsschwankungen.
Nur diese Internetseite hatte er sich näher angeschaut. Dieses Forum, in dem sich Menschen über Selbstmord unterhielten und es viele gab, die konkrete Pläne hatten. Ob Liane „liveindeath“ war? Oder vielleicht „crying_deep“? Er hoffte es nicht, aber konnte sich keineswegs sicher sein. Die Schatulle machte ihm Angst. Und die Internetseite. Und nicht zuletzt der Artikel, den er fast jeden Abend aufs Neue las und fast schon auswendig kannte. In dem geschrieben war, wie schnell sich Menschen von ihrem Leben verabschiedeten und wie schnell man im Netz dazu die richtige Anleitung finden konnte.
Ben kam an eine Gabelung. Der Regen hatte nachgelassen, vor ihm stand eine gelbe Straßenbahn an ihrer Haltestelle. Rechts herum ging es zum Friedhof, links zur Altstadt. Ben wusste nicht weiter. Es war ein Moment, in dem er Liane nicht kannte. Manchmal liebte er sie für ihre Unbeständigkeit, für ihre Spontaneität und ihre Freiheiten und manchmal wusste er nicht, ob er es wirklich ertragen konnte, dieses Sprunghafte, Unentschlossene an ihr.
Er ging zur Haltestelle und wartete. Er ließ eine Bahn an sich vorbeifahren. In ihr herrschte eine Menschenmenge, verschwitzte Scheiben dekorierten ihre Fahrt. Ben ließ eine zweite Bahn an sich vorbeifahren. Dasselbe Bild. In die dritte stieg er ein, obwohl er sein Ticket nicht eingesteckt hatte.
Eine junge Frau sprach ihn an: „Sie können auf meiner Karte mitfahren.“ Dann flüsterte sie: „Sie wird zurückkommen, aber Sie müssen auf sie zugehen“ und verschwand in der Menschenmenge.
Ben versuchte ihr zu folgen, doch sie schien nie da gewesen zu sein. Hatte er jetzt schon Halluzinationen? Er rieb sich die Augen. Es wurde ihm alles zuviel, er versuchte Halt zu finden, doch verlor in einer Kurve den Stand. Er prallte gegen einen Mann im Anzug, der mit missmutigem Gesicht seine Zeitung vor der Brust hielt. Er murmelte etwas von „Immer dasselbe“ und breitete seine Schultern aus. Ben floh sich in eine Ecke an der Tür und kauerte sich dort zusammen. Ihm war plötzlich sehr kalt und übel. Muss ich mich übergeben, fragte er sich selbst und wusste auch darauf keine Antwort.
„Wohin bloß“, flüsterte er ängstlich in den freien Raum. „Waldfriedhof“, klang es scheppernd aus den Lautsprechern der Bahn. Ben stieg aus.
[…]
Teil 2...
Der Regen peitschte Ben ins Gesicht, er hielt die Augen zu kleinen Schlitzen geschlossen, während er auf den Bahnschienen in die Richtung rannte, in die Liane verschwunden war. Alle paar Minuten wurde er von einer herannahenden Bahn zur Seite geklingelt und vom Fahrer wütend angeschaut, doch das war ihm egal. Er rannte seiner Liebe hinterher, die alles für vergänglich zu halten schien. Der zerknüllte Zettel von der Wohnungstür presste sich durch den Druck seiner Faust in das zarte Hautgeflecht seiner Hand. „Alles ist vergänglich, Ben“, hatte Liane gesagt und ihre Worte zeigten ihm, dass er ihre Liebe ganz und gar nicht für vergänglich hielt.
Doch er wusste es auch besser. Einmal zuviel hatte er die bedrohlich wirkende Seite im Verlauf seines Browsers gefunden und einmal zuviel hatte er den beunruhigenden Artikel in diesem Nachrichtenmagazin gelesen. Einmal zuviel und immer noch einmal zu wenig, denn wenn er lernte zwischen den Zeilen zu lesen, würde er vielleicht auch Liane verstehen lernen. Das erste und einzige Mal vielleicht. Vielleicht. Es gab mehr als genug von ihnen und den ganzen anderen Vermutungen. Ben wollte sich lieber mit Auf jeden Falls beschäftigen oder auch mit eindeutigen Jas. Doch was ihm blieb waren nur die Vielleicht und die Möglicherweise.
Er wusste es. Er ahnte mehr. Und er verstand letztlich gar nichts.
In dem Jahr, in dem Ben Liane kannte und auch liebte, waren immer wieder Momente versteckt, in denen er sie nicht kannte, in denen Liane eine Fremde war. Als ihre Nase zu bluten begann, begannen seine Sorgen. Sie verschwand dann immer im Badezimmer und ließ sich nicht mehr blicken. Am Ende kam sie heraus, als sei nichts gewesen, die Nase frisch gepudert, die Haare gemacht, als würde sie zu einer Feier aufbrechen wollen. Ben hatte die kleine Schatulle im Medizinschränkchen entdeckt, sie war abschließbar und somit unerreichbar für ihn. Einmal hatte er sie gefragt, hatte gehofft, mit ihr darüber reden zu können, hatte gehofft, dass man gemeinsam eine Lösung für Probleme fand, doch Liane hatte nur gelacht und ihn nicht ernst genommen. Als er nachgebohrt hatte, war sie laut geworden und hatte ihn angeschrieen, dass er sich nicht zu sehr in ihr Leben einzumischen hätte, er würde damit nur alles kaputtmachen. Seitdem hatte er aus Angst sie zu verlieren, nichts mehr gesagt über die Schatulle und das Nasenbluten und ihre Stimmungsschwankungen.
Nur diese Internetseite hatte er sich näher angeschaut. Dieses Forum, in dem sich Menschen über Selbstmord unterhielten und es viele gab, die konkrete Pläne hatten. Ob Liane „liveindeath“ war? Oder vielleicht „crying_deep“? Er hoffte es nicht, aber konnte sich keineswegs sicher sein. Die Schatulle machte ihm Angst. Und die Internetseite. Und nicht zuletzt der Artikel, den er fast jeden Abend aufs Neue las und fast schon auswendig kannte. In dem geschrieben war, wie schnell sich Menschen von ihrem Leben verabschiedeten und wie schnell man im Netz dazu die richtige Anleitung finden konnte.
Ben kam an eine Gabelung. Der Regen hatte nachgelassen, vor ihm stand eine gelbe Straßenbahn an ihrer Haltestelle. Rechts herum ging es zum Friedhof, links zur Altstadt. Ben wusste nicht weiter. Es war ein Moment, in dem er Liane nicht kannte. Manchmal liebte er sie für ihre Unbeständigkeit, für ihre Spontaneität und ihre Freiheiten und manchmal wusste er nicht, ob er es wirklich ertragen konnte, dieses Sprunghafte, Unentschlossene an ihr.
Er ging zur Haltestelle und wartete. Er ließ eine Bahn an sich vorbeifahren. In ihr herrschte eine Menschenmenge, verschwitzte Scheiben dekorierten ihre Fahrt. Ben ließ eine zweite Bahn an sich vorbeifahren. Dasselbe Bild. In die dritte stieg er ein, obwohl er sein Ticket nicht eingesteckt hatte.
Eine junge Frau sprach ihn an: „Sie können auf meiner Karte mitfahren.“ Dann flüsterte sie: „Sie wird zurückkommen, aber Sie müssen auf sie zugehen“ und verschwand in der Menschenmenge.
Ben versuchte ihr zu folgen, doch sie schien nie da gewesen zu sein. Hatte er jetzt schon Halluzinationen? Er rieb sich die Augen. Es wurde ihm alles zuviel, er versuchte Halt zu finden, doch verlor in einer Kurve den Stand. Er prallte gegen einen Mann im Anzug, der mit missmutigem Gesicht seine Zeitung vor der Brust hielt. Er murmelte etwas von „Immer dasselbe“ und breitete seine Schultern aus. Ben floh sich in eine Ecke an der Tür und kauerte sich dort zusammen. Ihm war plötzlich sehr kalt und übel. Muss ich mich übergeben, fragte er sich selbst und wusste auch darauf keine Antwort.
„Wohin bloß“, flüsterte er ängstlich in den freien Raum. „Waldfriedhof“, klang es scheppernd aus den Lautsprechern der Bahn. Ben stieg aus.
[…]
novemberregen,
Freitag, 6. Oktober 2006, 00:25
Egal was Sie tun...
ändern Sie nie (!) diesen letzten Absatz.
schluesselkind,
Freitag, 6. Oktober 2006, 00:34
Gänsehauttext
Wirklich sehr schön, lieber Herr Nyxon. Und Kollegin Novemberregen hat, wie so oft, recht.
nyxon,
Freitag, 6. Oktober 2006, 00:42
Änderungen hatte ich für die veröffentlichen Teile nicht mehr vorgesehen.
Ich danke Ihnen beiden sehr für diesen ebenfalls gänsehautbereitenden Input!
Ich danke Ihnen beiden sehr für diesen ebenfalls gänsehautbereitenden Input!