Der Tag, an dem Ben Lianes Lachen verlor (Teil 1)
Der Tag, an dem Ben Lianes Lachen verlor war einer dieser tristen, grauen Tage. Es war ein Tag, an dem die Regentropfen wie ein Trommelfeuer gegen die Fensterscheiben klopften und an dem die Nachbarskinder in neongelben Regenkleidern durch die Pfützen hüpften und alte Damen auf der Straße mit gepunkteten Plastikhauben auf dem Kopf an der Bushaltestelle standen. Es war ein Tag, der zwischen zwei Sonnentagen eines heißen Sommers lag und den sich alle herbeisehnten, der Abkühlung wegen, den dann aber alle mies machten, wenn er endlich da war.

Ben und Liane lagen gemeinsam im Bett und schwänzten die Vorlesung. Sie kuschelten sich in die Decke und aneinander und lasen sich gegenseitig die Zeitung vor. Neben dem Bett standen zwei Tassen Kaffee, die schon kalt waren und zwei angebissene Croissants, denen man keine Beachtung mehr schenkte. Es war dunkel im Raum, Liane hatte das so gewollt, auch wenn Ben ihr ganz oft erzählt hatte, dass Lesen bei zu dunklen Lichtverhältnissen den Augen schadete. Ihr war es egal, denn sie mochte Brillen und fand sich auch mit der Vorstellung Kontaktlinsen zu tragen, attraktiv. Ben fand Liane äußerst attraktiv. Im Freundeskreis gab er gerne an mit ihr und ihren Qualitäten. Er erzählte dann von ihrem schönen Körper, den er neben sich liegen haben durfte und an den Duft, den sie direkt nach dem Duschen aussandte. Er beschrieb die Sommersprossen, die sich auf ihrer Nase bildeten, wenn sie lachte und von ihren Grübchen. Er konnte gar nicht aufhören von ihr zu erzählen, wenn er einmal angefangen hatte. Er tat es nur, wenn Liane nicht dabei war, denn sie mochte es nicht, wenn Ben so über sie sprach. Fragte man sie nach Ben, dann sagte sie nur: „Der Ben, das ist meiner“, und damit war alles gesagt. Irgendwie war es immer so, dass die beiden die Rollen tauschten. Ben brauchte länger im Bad als Liane, dafür war er ein besserer Zuhörer. Liane mochte das Autofahren, Ben hingegen nahm lieber den Bus. Im Sport waren beide gut, aber während Ben sich Tennis ansah, verbrachte Liane ihre Freizeit auch am Spielfeldrand eines Fußballspiels.

„Liebst du mich?“, fragte Liane zwischen den Schlagzeilen, dass ein Affe einen Zoobesucher angegriffen und der Iran erneut einen Stopp seiner Urananreicherung zurückgewiesen hatte.
Ben schaute auf und ihr in die Augen. „Aber natürlich“, sagte er.
„Bist du dir sicher? Kann es nicht sein, dass du dir einfach nur vorstellst, dass du mich liebst, aber eigentlich magst du mich nur?“
„Wenn ich dich nur mögen würde, könnte ich gar nicht so viele Gefühle in mir haben“, meinte Ben darauf und küsste Liane auf die Nase. Sie wischte seinen nassen Kuss fort und kuschelte sich an ihn.
„Das ist gut, dass du mich liebst, ich liebe dich nämlich auch.“
„Bist du sicher?“, fragte Ben und grinste schelmisch. Dafür flog ihm das Kissen ins Gesicht und als er es zurückwarf, brach der Krieg aus.
Lachend fielen sie sich nach der Kissenschlacht in die Arme und küssten sich.

„Ich bin glücklich mit dir“, meinte Liane und schaute traurig durch das Fenster nach draußen.
„Wieso schaust du dann plötzlich so traurig?“
Sie stieg aus dem Bett und lehnte sich an den Fensterrahmen, betrachtete die nasse Straße zu ihren Füßen und die wenigen Menschen, die trotz des Regens dort unterwegs waren. Eine gelbe Straßenbahn schlängelte sich langsam auf ihren Schienen voran, durch die beschlagenen Fenster konnte Liane nur die Silhouetten der Menschen im Wagen erkennen.
„Ich habe Angst, dass du plötzlich mal weg bist und nicht mehr wiederkommst, Ben“, flüsterte sie und hielt eine Träne zurück.
Ben schaute ratlos drein. „Aber wieso sollte ich denn plötzlich weg sein? Ich liebe dich und möchte dich nicht mehr allein lassen. Ich möchte bei dir bleiben, was auch passiert.“
„Was auch passiert?“
„Aber sicher! Ich liebe dich!“ Ben umarmte sie, aber Liane machte sich los und ging in die Küche. In der Kaffeemaschine schimmerte der letzte dunkle Rest des Morgenkaffees, auf dem quadratischen Tisch verlor die Butter ihre Konsistenz. Alles ist vergänglich, dachte Liane bei diesem Anblick.
„Alles ist vergänglich, Ben“, stieß sie hervor und die Butter vom Tisch. „Irgendwann wirst du weg sein, weil ich so bin, wie ich bin und dann sind wir beide wieder alleine und schmelzen vor Angst und Liebe dahin wie die Butter hier!“

Liane stürmte hinaus und schloss sich im Bad ein. Ben wusste, dass er jetzt nichts mehr sagen oder tun konnte, um sie herauszulocken. Wenn Liane Angst bekam, Angst vor der Einsamkeit und dem Verlust ihrer Konsistenz, dann konnte er nichts tun. Dann war er genauso allein, wie sie es fürchtete ohne ihn zu sein.
Er nahm sich den Restkaffee und schüttelte sich vor Ekel. Der Kaffee war kalt und schmeckte bitter. Ben kannte Liane nun seit einem Jahr und kannte sie immer noch nicht wirklich. Er wusste, wie sie roch, er kannte ihre Liebe und ihren Schmerz, er wusste, welche Menschen sie mochte und wen sie von diesen Menschen liebte und er konnte sagen, welchen Pullover sie abends in einer lauen Sommernacht am liebsten trug. Er konnte für sie einkaufen, ohne beim Heimkommen zu hören, dass er den falschen Aufschnitt gekauft hatte.
Doch wenn Liane Angst bekam und sich einschloss, war sie wieder eine Unbekannte für ihn.

Als sie nach einer halben Stunde immer noch nicht zurück war, begann er sich Sorgen zu machen. Zwanzig Minuten waren Durchschnitt, alles darunter überraschte Ben, alles darüber bereitete ihn Sorgen.
„Magst du wieder herauskommen?“, fragte er klopfend an der Tür. Keine Antwort. Er klopfte erneut. „Liane?“ Nichts. Als er die Klinke hinunterdrückte, gab die Tür nach. Das Licht im Badezimmer war an, doch Liana war nicht dort. Der Spiegelschrank zeigte Bens besorgtes Gesicht, dann wurde es dunkel um ihn herum.
„Wo bist du?“, rief Ben durch die Wohnung und suchte. In der Küche, was absurd war, weil er die ganze Zeit in ihr gesessen hatte. Im Schlafzimmer, wo er außer dem kalten Kaffee, den angebissenen Croissants und dem zerwühlten Bett nichts fand. Im Wohnzimmer, wo es durch die Decke tropfte, aber Liane auch nicht war. Ben sah durch das Fenster und schaute auf die regennasse Straße.

Lianes roter Regenmantel stieg gerade in eine weiße Straßenbahn und verschwand. Ben wählte ihre Handynummer. „Wer hat an der Uhr gedreht“ piepste aus ihrer Handtasche, die neben dem Schrank lag. Ben zog sich an und ging aus der Tür. Von außen klebte ein Zettel am Eichenimitat: „Alles ist vergänglich, Ben“, stand darauf.
Ben griff den Zettel und rannte die Treffen hinunter. Er dachte an Lianes Lachen und ihre Grübchen, dachte an die Sommersprossen auf ihrer Nase und den Duft nach dem Duschen. Er erinnerte sich, wie sich diese besondere Liebe zu ihr anfühlte und rannte im strömenden Regen die Straßenbahnschienen entlang.

[…]

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