285-Stufen-Stadt
Am Bahnsteig gegenüber drängeln sich die Pendler wie Trauben im Korb kurz bevor die dicken Winzerfüße sie zerquetschen. Mein ICE ist - wer hätte es ahnen können! - pünktlich, zwar einer der Zweierreihe mit diesen hässlichen grünen Bezügen, aber wer hat heutzutage von der Bahn schon Ansprüche? Die Pünktlichkeit wird beibehalten und ohne Zwischenfall erblicke ich das Licht der Welt... ähm... des Berliner Hauptbahnhofs meine ich. Imponierendes Stahlglaskonstrukt, mit solchen Proporz kann man mich beeindrucken, ehrlich. Berlin empfängt mich müde, für eine Hauptstadt sind die Straßen unerwartet leer. Wahrscheinlich erwacht dieser Moloch noch im Laufe des Tages. Die größte Waschmaschine der Welt ist noch hässlicher als im Fernsehen und dass die Schweizer ihre Botschaft direkt zwischen ihr und dem Reichstag erfunden haben finde ich skandalös.
Per pedes geht es am Brandenburger Tor vorbei, straight gen Bahnkonzernzentrale, denn die liegt wie mir bekannt ist, am Potsdamer Platz, wo ich auch hin muss, also ist sie als Wegmarke geeignet. Auch das Sony Center imponiert mir - Gott, bin ich leicht mit luftigen Glasbauten zu fangen! Mein Termin findet in einem Gebäudekomplex gegenüber statt, erst in ein paar Stunden, aber ich bin gerne vorbereitet. Der Potsdamer Platz ist auch nur ein Platz, der nach einer Stadt benannt ist, denke ich mir und schlendere die Straße entlang. Starbucks wohin man schaut. Berlin ist die Hauptstadt von Starbucks Deutschland!

Einige Meter weiter dann schon wieder ein ganz anderes Bild. Abseits der Hauptadern und der kleinen pulsierenden Zentren, in den schmalen Seitenstraßen, zerfallene Häuser, verlassene Hinterhöfe, 1-Euro-Shops. Hier kommt das Arm der "Arm aber sexy"-Stadt zutage. Berlin aber auch im Wandel. An allen Ecken und Enden wird gebohrt, gebuddelt, abgerissen, neu erbaut und verschönert.
Gegenüber der Humboldt-Universität, die plötzlich überall zu sein scheint, halte ich kurz an einem Kaffeeshop. Doch die Preise sind mir zu hoch, sparen ist angesagt. Ich erwidere das Lächeln einer jungen Frau hinter der Scheibe am Hockertisch, gehe aber trotzdem weiter. Sexy scheint Berlin also nicht nur im Regierungsviertel sein zu können. Einen normalen Bäcker mit Sitzgelegenheit zu finden, scheint ein unmögliches Unterfangen. Mir schmerzen bereits die Füße in den Businessschuhen, bevor ich mich mit Käsebrötchen und Cappuccino an den Tisch setze. Der Nebentisch duzt mich, als er nach Zucker fragt.
Mich zieht es an die Spree. Bereits nach meiner Ankunft habe ich mit Genuss auf die Uferanlagen geschielt und mich in Gedanken bereits auf einer der Bänke sitzen sehen. Jetzt mache ich es wahr, schlendere am Spreeufer entlang. Im Sommer muss das ein Traum sein, wenn die Bäume grün und die Luft warm ist und wenn man sich ein kleines wenig so fühlen kann, wie einer, der hierher gehört. Gedankenverloren schaue ich mich um. Höhe Alexanderplatz. Erichs Lampenladen segnet so langsam aber sicher das Zeitliche. Dann bis runter an das Kanzleramt und weil ich gerade im Gang bin direkt noch das Stück bis Bellevue. Die Füße spüre ich nicht mehr, also auf auf!
Rauf auf die Siegessäule, denn heute will ich ja als Sieger aus diesem Vorstellungsgespräch hinausgehen, also bringe ich mich mit 285 Stufen bereits in Siegerlaune. Wenn Berlin mal wieder finanziell autark und sexy sein sollte, würde ich zuerst den Tunnel zur Siegessäule zu einem Siegestunnel aufhübschen, denn dort herrscht Geisterbahn. Langsam wird es Zeit für mich zum Potsdamer Platz zu gehen, um meinen Termin wahrzunehmen. Vor dem Ritz Carlton stehen dicke Limousinen mit gelangweilten Chauffeuren.

In den vierten Stock geht es nur mit dem Segen der Empfangsdame beziehungsweise mit ihrem Berechtigungschip. Vom Lift aus erstreckt sich direkt das Büro vor mir, hell, sauber, edel - wie man es von einer renommierten PR-Agentur erwartet. Die Cheftippse trägt ein Kostüm, das farblich nicht zu der Strumpfhose passt. Ich verzeihe es ihr und sie lässt mich im Gegenzug auf die Chefs warten.
Man entschuldigt sich, es sei ein ungeplantes Meeting der Geschäftsführung dazwischengekommen, man erweitere gerade das Team von 45 Festangestellte auf über 60, da fielen organisatorische Spähne. Wachsen ist immer gut, denke ich und wachse an Charme über mich hinaus. Ich nehme direkt das erste Fettnäpfchen und kreierte damit einen Runninggag. Die Kommunikation bei den letzten Regierungsreformen sei ja eher schlecht gewesen, erkläre ich und bekomme dann mitgeteilt, dass die Agentur Berater des Presseamtes dabei war. Da die Regierung aber immer alles anders macht als beraten, gebe man sich nur die Teilschuld und mir damit recht. Es folgt ein lockeres Gespräch in angenehmer Atmosphäre. Ich erfahre, dass ich etwas Besonderes bin, da sonst nur Anwärter mit abgeschlossenem Grundstudium Chancen hätten, die zudem noch länger als zwei Monate bleiben würden. Durch die Empfehlung durch meinen Professor und vor allem durch den persönlichen Eindruck würde man mich aber nicht abweisen. Zum Schluss entwickele ich in 30 Minuten eine fiktive Kommunikationsstrategie für das kulturelle Berlin und soll in zehn Tagen mehr wissen.
Den Abend verbringe ich mit Currywurst und Pommes in einer kleinen Klitsche direkt unterm Alex. Die Stadt scheint keine Zeit zu kennen, denn immer wieder muss ich einen Blick aufs Handy werfen, da ich keine öffentlichen Zeitmesser ausmachen kann. Berlin bei Nacht (oder einsetzender Dämmerung muss ich wohl eher sagen) ist sehr viel schöner als das tägliche Berlin. Das tägliche Berlin ist einfach nur eine geschäftige Großstadt mit enormen Ausmaßen und einer Reihe von Edelrestaurants. Das abendliche Berlin ist eine Offenbarung. Wenn diese Stadt mit Lichtern und Atmosphäre protzen kann, geht sie auf wie eine Rose und mit solchen Eindrücken verstehe ich sehr viel besser, wieso manche nie wieder von hier fort wollen. Im Schloss Bellevue scheint Herr Köhler als einziger zu arbeiten, versteht man das einzelne beleuchtete Fenster entsprechend, und selbst das Kanzleramt wirkt beleuchtet wie ein waschmaschiniges Kunstwerk. Die Illumination bei meinem letzten Rundgang erreicht ihre Spitze in einem Meer voller Sterne.
Gelungener Abschluss einer hoffentlich auch abschließend gelungenen Geschäftsreise.

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neous, Freitag, 15. Februar 2008, 18:30
...und ein gelungener, schöner Bericht noch dazu!

nyxon, Samstag, 16. Februar 2008, 20:17
Merci.

sanddorn, Freitag, 15. Februar 2008, 18:38
Ja ja, in Berlin eröffnen sie einen Starbucks nach dem anderen und hierher hat sich noch immer kein einziger verirrt :(
Übrigens finde ich, dass die verlassenen Hinterhöfe in den schmalen Seitenstraßen oft ne Menge Charme haben. Vielleicht beeindrucken sie nicht so wie das Sony Center (bei Nacht bin ich da übrigens auch immer gern gewesen - der Springbrunnen ist so schön kitschig beleuchtet :) ), aber sie haben mehr Charakter.
Und dass man in Berlin noch immer häufiger geduzt wird als in anderen Gegenden wie wahrscheinlich deiner, finde ich auch sympathisch.

Liest sich übrigens schön dein Bericht über die 285-Stufen-Stadt! (Ich hab die Stufen vor ungefähr zehn Jahren glaube ich mal nachgezählt - hättte ja sein können, dass das Schild unten an der Säule lügt. Tut es aber nicht.)

Dann drücke ich dir mal die nächsten zehn Tage die Daumen :)

nyxon, Samstag, 16. Februar 2008, 20:21
Mir kam es zugute, dass ich vor dem Termin einige Stunden Zeit zum Berlinschlendern hatte, denn ich habe prompt die verlassenen (und teils wirklich charmanten) Hinterhöfe in mein Kommunikationskonzept eingearbeitet. Mal schauen, ob meine Idee, das kulturelle Berlin durch Kunst auf den Brücken und Hinterhöfen zu präsentieren, am Ende Früchte trägt.

Stufenzähler kamen mir auch entgegen beim Abstieg - und kurz darauf das Fluchen: "MIst, jetzt habe ich mich verzählt!" :)

morgenstern, Samstag, 16. Februar 2008, 20:30
Viele, viele bunte Smarties Sternchen...

nyxon, Samstag, 16. Februar 2008, 20:33
Du hast anscheinend eine riesengroße Verwandtschaft in Berlin.

Achja, und du lebst, das ist beruhigend...

morgenstern, Samstag, 16. Februar 2008, 20:39
Unkraut vergeht nicht.