Sonntag, 10. September 2006
Die "alte" und die "neue" Zeit
Was mir heute beim Kaffee trinken im "Edward's" aufgefallen ist, ist eine eindeutige Aussage darüber, wie das Internet das Leben eines Menschen beeinflussen oder verändern kann.

Ich war stets ein Mensch, der seine Termine, Verpflichtungen und auch das Erlebte meist sorgfältig in schriftlicher Form zu Papier brachte, um den Überblick zu behalten und auch um danach noch zu wissen, was war.

Der Terminkalender war mein täglicher Begleiter, dort habe ich alles notiert, was mir wichtig war - sowohl terminlich auch als persönlich.
Deshalb war er an manchen Tagen mit Verpflichtungen, Eindrücken und Gedanken vollgeschrieben. Ich verbrachte so manche Nachmittage damit, ihn sauber und detailliert zu führen - an früheren Jahrgängen kann ich nach wie vor ein komplettes Jahr rekonstruieren!
Seit ich jedoch dieses Blog betreibe, ist vieles, was früher handschriftlich in den Kalender kam, in diesen virtuellen Kalender hier verschoben worden. So hat sich die Fülle meiner Kalendernotizen bis auf ein paar wenige Terminsniederschriften sichtlich vermindert.

Jetzt könnte ich natürlich sagen, dass ich ja nebenbei auch den Kalender vollschreiben könnte. Doch mittlerweile habe ich wohl gelernt, ohne ihn auszukommen und trotzdem mein Leben in geordneten Bahnen laufen zu lassen. Das war mir früher immer zu riskant - ich hätte ja etwas Wichtiges vergessen oder den kompletten Überblick verlieren können.

Klinge ich zu koffeinlastig, wenn ich sage, dass ich dem handschriftlichen Kalender "entwachsen" bin?

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Der Tag, an dem Ben Lianes Lachen verlor (Teil 2)
Was bisher geschah...


Die Scheiben waren von innen beschlagen, die Bahn mit einer undurchdringlichen Masse aus Menschen verstopft. Liane stand zwischen einer alten Frau, die nach Alter roch, und einem Mann, dessen Gesicht von früherer Akne vernarbt war, direkt an der Tür. Ihr roter Regenmantel war der einzige Farbtupfer. Wie schon seit einiger Zeit ihr gesamtes Leben, hatte auch die Bahn mit all ihren Menschen darin die Farbe verloren. Grau in Grau standen sie zusammengepfercht da und ahnten nicht, wie schnell alles vorbei sein könnte.
Ein Mann in Anzug las eine Zeitung, als die Bahn eine Kurve fuhr und auf den Gleisen zu kreischen begann, verzog er das Gesicht zu einer angewiderten Fratze, bis das Kreischen nachließ. Dann las er seine Zeitung weiter, als sei es schon immer geradeaus gegangen.

Liane dachte an Ben, wie er ahnungslos in der Wohnung saß und sich vorstellte, wie das weitere gemeinsame Leben mit ihr wäre. Er konnte doch nicht ahnen, dass sie es nicht mehr aushielt. Diese Nähe, die sie zerdrückte und ihr den Raum zum Atmen nahm. Seine grenzenlose Liebe, die doch endlich war und keineswegs endlos, wie Ben es gerne dachte. Er konnte nicht wissen, dass sie ihn verlassen würde und er mit einer anderen glücklich werden müsste. Sie wollte es ihm auch nicht sagen, Ben war zu emotional bei solchen Sachen. Er hatte ihr oft gesagt, dass er sie mehr liebe als sein Leben. Liane wusste mit diesem Satz nichts anzufangen, denn sie wollte lieber leben als lieben. Dass beides möglich wäre, schien ihr absurd.

Entscheidungen treffen zu müssen war Liane zuwider, doch sie konnte sich schon seit langem nicht mehr aus dem Sog der Entscheidungen reißen. Ständig musste sie Alternativen abwägen und sehen, wo sie ihre Chancen sah. Das Leben war ein Kampf geworden und Ben wollte immer noch spielen. Er war glücklich mit ihr, das wollte sie ihm auch nicht nehmen. Auch Liane war glücklich mit Ben, doch war es ein anderes Glück. Ben hatte Sonne im Herzen, Liane einfach nur kein Gewitter. Ben gab ihr Sicherheit und Rückhalt, doch das, was sie brauchte, konnte er nicht entbehren. Er konnte es nicht wissen und sie wollte es ihm nicht sagen. Die Geheimnisse fraßen langsam ihre Liebe auf.

Am Waldfriedhof stieg Liane aus. Außer ihr beendeten noch vier andere Bahnfahrende ihre Reise. Auch die alte Frau, die nach Alter roch, war mit ihr ausgestiegen. Sie öffnete einen dunkelgrauen Regenschirm, um sich vor dem Regen aus dem hellgrauen Himmel zu schützen, der ihre weißgrauen Haare nicht benetzen sollte. Graue Tage machten Liane Angst, denn sie fürchtete, dass es für sie bald nur noch graue Tage geben könnte.
Sie folgte der grauen Frau auf den Friedhof. Der Regen hatte sich vor dem Tor in kleinen Pfützen gesammelt, jede für sich ein kleiner See. Liane sprang in ihrem roten Regenmantel in einen hinein und ließ Wasser aufspritzen. Die alte Frau bekam einige Tropfen ab und schaute grimmig über ihre Schulter. Als Liane ein entschuldigendes Gesicht machte, zeigte die alte Frau ihre alten Zähne und lächelte warm. Liane glaubte, dass die Frau sich jetzt an ihre Jugend erinnerte und verstand, weshalb die junge Frau im roten Regenmantel einfach in diese Pfütze springen musste. Mehr noch, sie fand sich bestimmt in ihr wieder, denn für einen Bruchteil des Lächelns roch die alte Frau nicht mehr nach Alter, sondern nach Güte.

Liane mochte Friedhöfe. Sie vermittelten ihr Ruhe und Geborgenheit. An regnerischen Tagen waren Friedhöfe viel schöner als an sonnigen Tagen. Liane erinnerte sich an einen kleinen Friedhof, den sie in Wien besucht hatte, er war an einer Autobahn gelegen, doch schien er durch eine unsichtbare Schutzschicht vom Lärm und Schmutz der vorbeirasenden Autos abgeschirmt. Stundenlang hatte Liane an den kleinen und großen Gräbern gestanden und sich die Menschen vorzustellen versucht, die dort lagen. Zu jedem Namen hatte sie eine kleine Geschichte gemurmelt und gehofft, dass einiges wahr sein würde.
Ben mochte keine Friedhöfe. Ihn brachten sie aus der Ruhe, weil sie ihn an Tod und Verlust erinnerten und er doch so gerne lebte und liebte. Er war da wie immer ganz anders als Liane. Er war das Leben, Liane hingegen war wie eine Blüte, die kurz davor stand, ihren Halt zu verlieren und vom Stiel herunterzufallen.

Sie musste sich an einem der nassen Grabsteine festhalten, als ihr schwindelig wurde. Die Welt drehte sich wieder für sie, aber auf die Art, die sie nicht ertragen konnte. Sie schnappte nach Luft, obwohl sie gar keine Probleme beim Atmen hatte. Man hatte ihr erklärt, dass sie sich auf etwas anderes konzentrieren sollte, wenn die Welt sich drehte, damit sie nicht herunterfiel.
Mit zitternden Händen griff sie in die Tasche ihres roten Regenmantels und drehte die Dose auf. Ein winziger Tropfen Blut entglitt ihrer Nase, als sie die kleine zartrosa Pille zwischen Daumen und Zeigefinger nahm und so lange betrachtete, bis das Zartrosa mit den blasser werdenden Konturen ihrer Finger verschwamm.


[…]

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