Sonntag, 10. September 2006
Der Tag, an dem Ben Lianes Lachen verlor (Teil 2)
Was bisher geschah...


Die Scheiben waren von innen beschlagen, die Bahn mit einer undurchdringlichen Masse aus Menschen verstopft. Liane stand zwischen einer alten Frau, die nach Alter roch, und einem Mann, dessen Gesicht von früherer Akne vernarbt war, direkt an der Tür. Ihr roter Regenmantel war der einzige Farbtupfer. Wie schon seit einiger Zeit ihr gesamtes Leben, hatte auch die Bahn mit all ihren Menschen darin die Farbe verloren. Grau in Grau standen sie zusammengepfercht da und ahnten nicht, wie schnell alles vorbei sein könnte.
Ein Mann in Anzug las eine Zeitung, als die Bahn eine Kurve fuhr und auf den Gleisen zu kreischen begann, verzog er das Gesicht zu einer angewiderten Fratze, bis das Kreischen nachließ. Dann las er seine Zeitung weiter, als sei es schon immer geradeaus gegangen.

Liane dachte an Ben, wie er ahnungslos in der Wohnung saß und sich vorstellte, wie das weitere gemeinsame Leben mit ihr wäre. Er konnte doch nicht ahnen, dass sie es nicht mehr aushielt. Diese Nähe, die sie zerdrückte und ihr den Raum zum Atmen nahm. Seine grenzenlose Liebe, die doch endlich war und keineswegs endlos, wie Ben es gerne dachte. Er konnte nicht wissen, dass sie ihn verlassen würde und er mit einer anderen glücklich werden müsste. Sie wollte es ihm auch nicht sagen, Ben war zu emotional bei solchen Sachen. Er hatte ihr oft gesagt, dass er sie mehr liebe als sein Leben. Liane wusste mit diesem Satz nichts anzufangen, denn sie wollte lieber leben als lieben. Dass beides möglich wäre, schien ihr absurd.

Entscheidungen treffen zu müssen war Liane zuwider, doch sie konnte sich schon seit langem nicht mehr aus dem Sog der Entscheidungen reißen. Ständig musste sie Alternativen abwägen und sehen, wo sie ihre Chancen sah. Das Leben war ein Kampf geworden und Ben wollte immer noch spielen. Er war glücklich mit ihr, das wollte sie ihm auch nicht nehmen. Auch Liane war glücklich mit Ben, doch war es ein anderes Glück. Ben hatte Sonne im Herzen, Liane einfach nur kein Gewitter. Ben gab ihr Sicherheit und Rückhalt, doch das, was sie brauchte, konnte er nicht entbehren. Er konnte es nicht wissen und sie wollte es ihm nicht sagen. Die Geheimnisse fraßen langsam ihre Liebe auf.

Am Waldfriedhof stieg Liane aus. Außer ihr beendeten noch vier andere Bahnfahrende ihre Reise. Auch die alte Frau, die nach Alter roch, war mit ihr ausgestiegen. Sie öffnete einen dunkelgrauen Regenschirm, um sich vor dem Regen aus dem hellgrauen Himmel zu schützen, der ihre weißgrauen Haare nicht benetzen sollte. Graue Tage machten Liane Angst, denn sie fürchtete, dass es für sie bald nur noch graue Tage geben könnte.
Sie folgte der grauen Frau auf den Friedhof. Der Regen hatte sich vor dem Tor in kleinen Pfützen gesammelt, jede für sich ein kleiner See. Liane sprang in ihrem roten Regenmantel in einen hinein und ließ Wasser aufspritzen. Die alte Frau bekam einige Tropfen ab und schaute grimmig über ihre Schulter. Als Liane ein entschuldigendes Gesicht machte, zeigte die alte Frau ihre alten Zähne und lächelte warm. Liane glaubte, dass die Frau sich jetzt an ihre Jugend erinnerte und verstand, weshalb die junge Frau im roten Regenmantel einfach in diese Pfütze springen musste. Mehr noch, sie fand sich bestimmt in ihr wieder, denn für einen Bruchteil des Lächelns roch die alte Frau nicht mehr nach Alter, sondern nach Güte.

Liane mochte Friedhöfe. Sie vermittelten ihr Ruhe und Geborgenheit. An regnerischen Tagen waren Friedhöfe viel schöner als an sonnigen Tagen. Liane erinnerte sich an einen kleinen Friedhof, den sie in Wien besucht hatte, er war an einer Autobahn gelegen, doch schien er durch eine unsichtbare Schutzschicht vom Lärm und Schmutz der vorbeirasenden Autos abgeschirmt. Stundenlang hatte Liane an den kleinen und großen Gräbern gestanden und sich die Menschen vorzustellen versucht, die dort lagen. Zu jedem Namen hatte sie eine kleine Geschichte gemurmelt und gehofft, dass einiges wahr sein würde.
Ben mochte keine Friedhöfe. Ihn brachten sie aus der Ruhe, weil sie ihn an Tod und Verlust erinnerten und er doch so gerne lebte und liebte. Er war da wie immer ganz anders als Liane. Er war das Leben, Liane hingegen war wie eine Blüte, die kurz davor stand, ihren Halt zu verlieren und vom Stiel herunterzufallen.

Sie musste sich an einem der nassen Grabsteine festhalten, als ihr schwindelig wurde. Die Welt drehte sich wieder für sie, aber auf die Art, die sie nicht ertragen konnte. Sie schnappte nach Luft, obwohl sie gar keine Probleme beim Atmen hatte. Man hatte ihr erklärt, dass sie sich auf etwas anderes konzentrieren sollte, wenn die Welt sich drehte, damit sie nicht herunterfiel.
Mit zitternden Händen griff sie in die Tasche ihres roten Regenmantels und drehte die Dose auf. Ein winziger Tropfen Blut entglitt ihrer Nase, als sie die kleine zartrosa Pille zwischen Daumen und Zeigefinger nahm und so lange betrachtete, bis das Zartrosa mit den blasser werdenden Konturen ihrer Finger verschwamm.


[…]

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Montag, 7. August 2006
Der Tag, an dem Ben Lianes Lachen verlor (Teil 1)
Der Tag, an dem Ben Lianes Lachen verlor war einer dieser tristen, grauen Tage. Es war ein Tag, an dem die Regentropfen wie ein Trommelfeuer gegen die Fensterscheiben klopften und an dem die Nachbarskinder in neongelben Regenkleidern durch die Pfützen hüpften und alte Damen auf der Straße mit gepunkteten Plastikhauben auf dem Kopf an der Bushaltestelle standen. Es war ein Tag, der zwischen zwei Sonnentagen eines heißen Sommers lag und den sich alle herbeisehnten, der Abkühlung wegen, den dann aber alle mies machten, wenn er endlich da war.

Ben und Liane lagen gemeinsam im Bett und schwänzten die Vorlesung. Sie kuschelten sich in die Decke und aneinander und lasen sich gegenseitig die Zeitung vor. Neben dem Bett standen zwei Tassen Kaffee, die schon kalt waren und zwei angebissene Croissants, denen man keine Beachtung mehr schenkte. Es war dunkel im Raum, Liane hatte das so gewollt, auch wenn Ben ihr ganz oft erzählt hatte, dass Lesen bei zu dunklen Lichtverhältnissen den Augen schadete. Ihr war es egal, denn sie mochte Brillen und fand sich auch mit der Vorstellung Kontaktlinsen zu tragen, attraktiv. Ben fand Liane äußerst attraktiv. Im Freundeskreis gab er gerne an mit ihr und ihren Qualitäten. Er erzählte dann von ihrem schönen Körper, den er neben sich liegen haben durfte und an den Duft, den sie direkt nach dem Duschen aussandte. Er beschrieb die Sommersprossen, die sich auf ihrer Nase bildeten, wenn sie lachte und von ihren Grübchen. Er konnte gar nicht aufhören von ihr zu erzählen, wenn er einmal angefangen hatte. Er tat es nur, wenn Liane nicht dabei war, denn sie mochte es nicht, wenn Ben so über sie sprach. Fragte man sie nach Ben, dann sagte sie nur: „Der Ben, das ist meiner“, und damit war alles gesagt. Irgendwie war es immer so, dass die beiden die Rollen tauschten. Ben brauchte länger im Bad als Liane, dafür war er ein besserer Zuhörer. Liane mochte das Autofahren, Ben hingegen nahm lieber den Bus. Im Sport waren beide gut, aber während Ben sich Tennis ansah, verbrachte Liane ihre Freizeit auch am Spielfeldrand eines Fußballspiels.

„Liebst du mich?“, fragte Liane zwischen den Schlagzeilen, dass ein Affe einen Zoobesucher angegriffen und der Iran erneut einen Stopp seiner Urananreicherung zurückgewiesen hatte.
Ben schaute auf und ihr in die Augen. „Aber natürlich“, sagte er.
„Bist du dir sicher? Kann es nicht sein, dass du dir einfach nur vorstellst, dass du mich liebst, aber eigentlich magst du mich nur?“
„Wenn ich dich nur mögen würde, könnte ich gar nicht so viele Gefühle in mir haben“, meinte Ben darauf und küsste Liane auf die Nase. Sie wischte seinen nassen Kuss fort und kuschelte sich an ihn.
„Das ist gut, dass du mich liebst, ich liebe dich nämlich auch.“
„Bist du sicher?“, fragte Ben und grinste schelmisch. Dafür flog ihm das Kissen ins Gesicht und als er es zurückwarf, brach der Krieg aus.
Lachend fielen sie sich nach der Kissenschlacht in die Arme und küssten sich.

„Ich bin glücklich mit dir“, meinte Liane und schaute traurig durch das Fenster nach draußen.
„Wieso schaust du dann plötzlich so traurig?“
Sie stieg aus dem Bett und lehnte sich an den Fensterrahmen, betrachtete die nasse Straße zu ihren Füßen und die wenigen Menschen, die trotz des Regens dort unterwegs waren. Eine gelbe Straßenbahn schlängelte sich langsam auf ihren Schienen voran, durch die beschlagenen Fenster konnte Liane nur die Silhouetten der Menschen im Wagen erkennen.
„Ich habe Angst, dass du plötzlich mal weg bist und nicht mehr wiederkommst, Ben“, flüsterte sie und hielt eine Träne zurück.
Ben schaute ratlos drein. „Aber wieso sollte ich denn plötzlich weg sein? Ich liebe dich und möchte dich nicht mehr allein lassen. Ich möchte bei dir bleiben, was auch passiert.“
„Was auch passiert?“
„Aber sicher! Ich liebe dich!“ Ben umarmte sie, aber Liane machte sich los und ging in die Küche. In der Kaffeemaschine schimmerte der letzte dunkle Rest des Morgenkaffees, auf dem quadratischen Tisch verlor die Butter ihre Konsistenz. Alles ist vergänglich, dachte Liane bei diesem Anblick.
„Alles ist vergänglich, Ben“, stieß sie hervor und die Butter vom Tisch. „Irgendwann wirst du weg sein, weil ich so bin, wie ich bin und dann sind wir beide wieder alleine und schmelzen vor Angst und Liebe dahin wie die Butter hier!“

Liane stürmte hinaus und schloss sich im Bad ein. Ben wusste, dass er jetzt nichts mehr sagen oder tun konnte, um sie herauszulocken. Wenn Liane Angst bekam, Angst vor der Einsamkeit und dem Verlust ihrer Konsistenz, dann konnte er nichts tun. Dann war er genauso allein, wie sie es fürchtete ohne ihn zu sein.
Er nahm sich den Restkaffee und schüttelte sich vor Ekel. Der Kaffee war kalt und schmeckte bitter. Ben kannte Liane nun seit einem Jahr und kannte sie immer noch nicht wirklich. Er wusste, wie sie roch, er kannte ihre Liebe und ihren Schmerz, er wusste, welche Menschen sie mochte und wen sie von diesen Menschen liebte und er konnte sagen, welchen Pullover sie abends in einer lauen Sommernacht am liebsten trug. Er konnte für sie einkaufen, ohne beim Heimkommen zu hören, dass er den falschen Aufschnitt gekauft hatte.
Doch wenn Liane Angst bekam und sich einschloss, war sie wieder eine Unbekannte für ihn.

Als sie nach einer halben Stunde immer noch nicht zurück war, begann er sich Sorgen zu machen. Zwanzig Minuten waren Durchschnitt, alles darunter überraschte Ben, alles darüber bereitete ihn Sorgen.
„Magst du wieder herauskommen?“, fragte er klopfend an der Tür. Keine Antwort. Er klopfte erneut. „Liane?“ Nichts. Als er die Klinke hinunterdrückte, gab die Tür nach. Das Licht im Badezimmer war an, doch Liana war nicht dort. Der Spiegelschrank zeigte Bens besorgtes Gesicht, dann wurde es dunkel um ihn herum.
„Wo bist du?“, rief Ben durch die Wohnung und suchte. In der Küche, was absurd war, weil er die ganze Zeit in ihr gesessen hatte. Im Schlafzimmer, wo er außer dem kalten Kaffee, den angebissenen Croissants und dem zerwühlten Bett nichts fand. Im Wohnzimmer, wo es durch die Decke tropfte, aber Liane auch nicht war. Ben sah durch das Fenster und schaute auf die regennasse Straße.

Lianes roter Regenmantel stieg gerade in eine weiße Straßenbahn und verschwand. Ben wählte ihre Handynummer. „Wer hat an der Uhr gedreht“ piepste aus ihrer Handtasche, die neben dem Schrank lag. Ben zog sich an und ging aus der Tür. Von außen klebte ein Zettel am Eichenimitat: „Alles ist vergänglich, Ben“, stand darauf.
Ben griff den Zettel und rannte die Treffen hinunter. Er dachte an Lianes Lachen und ihre Grübchen, dachte an die Sommersprossen auf ihrer Nase und den Duft nach dem Duschen. Er erinnerte sich, wie sich diese besondere Liebe zu ihr anfühlte und rannte im strömenden Regen die Straßenbahnschienen entlang.

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Dienstag, 18. Juli 2006
Säufersonne
"Säufersonne" handelt von einem Pärchenabend, der anders verläuft, als sich die beiden Doppel es sich vorgestellt haben. Menschen reden erst richtig miteinander, wenn sie dazu gezwungen werden. Ein Stromausfall kann solch ein Zwang sein. Wenn der Strom ausfällt und das Licht ausgeht, werden die Wahrheiten erst wirklich ans Licht gebracht...

Kapitel 1: Austreten
Kapitel 2: Das Kaffeetassenprinzip


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Montag, 26. Juni 2006
Die Längertexte
In dieser Kategorie werde ich nach und nach Geschichten, Erzählungen und auch Neubeginne von längeren Texten, die ich geschrieben habe oder an denen ich noch schreibe veröffentlichen.
Ein wenig Resonanz in Form von Lob, Kritik, Verbesserungsvorschlägen und möglicherweise auch in der hilfreichsten Form von Mundpropaganda würde ich begrüßen.

Begrüßen möchte ich auch die Diebe unter euch und zwar mit dem Hinweis auf die §§ 2, 7 und 15 des Urheberrechtsgesetzes, die besagen, dass sich sämtliche sogenannte "Werke" (also sämtliches Schrift- und Gedankengut, das ich hier publiziere) in meiner als Urheber rechtlich geschützten Hand befinden und nur der Urheber die weitgehenden Verfügungsrechte hat.
Hinweisen möchte ich zudem besonders auf § 106 des Urheberrechtsgesetzes, der besagt, dass die Nutzung der Werke ohne Zustimmung des Urhebers eine Rechtsverletzung und somit eine Straftat darstellen - Geldstrafe oder bis zu drei Jahren Freiheitsstrafe sind die Folge!


Ich nehme nun den Zeigefinger wieder herunter und wünsche ich viel Spaß mit meinen Werken und würde mich freuen, Reaktionen in oben genannten Formen zu erhalten...

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