Unkraut vergeht nicht (Januar 2007)
„Zum letzten Mal: Kopf oder Zahl?" fragte sie noch einmal, bevor sie die Münze in die Luft warf.

Die Münze flog keineswegs hoch, noch drehte sie sich filmreif, vielmehr schien sie sich an ihre Umgebung anzupassen, indem sie gemächlich wurde, ja beinahe in der Luft stehen bleiben zu drohte. Beäugt von zwei Augenpaaren erreichte sie ihren dürftigen Höhepunkt im Flug und segelte dann wieder herab. Vorbei an der zittrigen Hand, die sie geworfen hatte. Vorbei an der Tischkante mit dem Spitzendeckchen darauf und vorbei an der Vase mit den frischen Schnittblumen. Mit einem Klirren schlug sie auf das Laminat und rollte unter den antiken Eichenschrank.

„Das hast du jetzt von deiner Spielsucht“, keifte Elisabeth und schaute ihr Gegenüber mit zusammengekniffenen Augen an.
Die winkte ab und setzte sich auf den zweiten Stuhl, an den Tisch mit dem Spitzendeckchen und der Vase mit den frischen Schnittblumen. „Ach, Spielsucht! Du musst immer übertreiben. Spielsucht ist, wenn ich meine Rente in einem Casino auf Rot setzen und Schwarz kommen würde. Das hier ist kontrolliertes Risiko.“
„Du hattest noch nie Glück im Spiel.“
„Du, meine liebe Elisabeth, hattest noch nie Glück im Spiel! Ich hatte schon einmal vier Richtige im Samstagslotto!“
„Und nichts davon ist geblieben, Trudi. Hast alles verplämmpert!“ Elisabeth verschränkte die Arme und blitzte Trudi ein weiteres Mal an. Diese winkte abermals ab und holte tief Luft. Ein Röcheln ging durch ihre Bronchien.
„Wieder diese Übertreibung! Verplämmert, pah! Gelebt, habe ich, mehr nicht und auch nicht weniger. Hätte dir auch einmal gut getan, Lissi.“
„Willst du die Münze nicht aufheben und noch mal werfen? Vorher bekommst du doch gar keine Ruhe.“
„Lass den Zivi mal kommen, dann werd ich schon ruhig“, erwiderte Trudi und begann an ihrer Strickjacke zu nesteln. „Außerdem, wie soll ich denn jetzt bitte mit meiner Hüfte auf dem Boden herumwuseln und halb unter den Schrank kriechen?“
„Tu nicht so wehleidig, du bist diejenige, die noch laufen kann. Ich kann dir natürlich auch gerne den Rollstuhl anbieten! Und wenn wir schon dabei sind, biete ich dir direkt die Inkontinenz an.“
„Hab ich selber, danke.“

Elisabeth lehnte sich hervor und schaute auf die große Uhr mit den silbernen Ziffernblättern und dem goldenen Rand. „Die geht falsch“, stellte sie fest.
„Die steht“, ergänzte Trudi trotzig und hob sich aus dem Stuhl. „Unter den Schrank kann ich vielleicht nicht greifen, aber vielleicht hinein. Likörchen?“
Elisabeths Augen leuchteten aufgrund der neuen Situation. „Pflaume?“, fragte sie vorsichtig.
„Zwetschge!“
„Das ist doch Pflaume!“
„Ich werde dir den Unterschied wohl nie beibringen können“, schüttelte Trudi den Kopf und öffnete eine Schranktür, um aus einem Stoß Wäsche eine Flasche Likör hinauszukramen. Ein gutes Versteck für die kleinen Geschenke, die man sich beizeiten selber macht, war das A und O, hatte Trudi sehr schnell festgestellt. Sie hielt nichts davon, auf all ihre Sachen kleine Namensaufkleber anzubringen, nur damit die irgendwann doch jemand abzog und ihre Sachen annektierte. Außerdem war so was Paranoia und die befiel nur Hausfrauen und alte Menschen – Hausfrau war sie nicht mehr, alt noch nicht, wenn es nach ihrer Zeitrechnung ging.
„Genauso wenig wie den Unterschied zwischen Spielsucht und kontrolliertem Risiko.“
„Ich höre dir genau zu, meine Liebe, sprich dich nur aus. Aber lass mich vorher die Pillen nehmen, damit mein Leiden nicht so groß wird.“

Trudi schnalzte mit den Lippen, als sie mehrmals versuchte, die Flasche zu öffnen, aber jedes Mal an dem Schraubverschluss scheiterte. „Mistding! Am Ende muss ich sie wieder den Zivi öffnen lassen und dann hab ich den Ärger.“
„Sagt er was?“, wollte Elisabeth ernstlich besorgt wissen.
Trudi tat eine letzte Kraftanstrengung und hielt eine Sekunde später triumphierend den Verschluss in den faltigen Händen. „Iwo, der trinkt mir alles weg! Das ist viel schlimmer. Letztens saß er mit mir eine halbe Stunde zusammen und hat mir die halbe Flasche leer gemacht, der Bengel. Ich sollte ihm das nächste Mal den Selbstgebrannten hinstellen, dann erfährt der Jungspund mal, was Rachenbrand ist.“
„Du bist fies, Trudi! Der Zivi ist äußerst nett, so einen netten hatten wir seit Jahren nicht.“
„Der schummelt beim Skat!“
„Tust du doch auch!“
„Das hab ich gar nicht nötig, meine Liebe“, wiegelte Elisabeth sichtlich entrüstet ab. Es war eine Sache sie im Bezug auf den Charakter des Zivis zurechtzuweisen, aber eine ganz andere, ihre Ehre im Skatspiel infrage zu stellen.

Sie schenkte Elisabeth und sich in zwei Wassergläser großzügig ein und verstaute dann die Flasche wieder im Schrank.
„Wohlsein!“
„Wohlsein!“
Beide nippten genüsslich an ihren Gläsern und rollten sie zwischen den knöchrig gewordenen Händen. Diese kleinen Laster waren das Einzige, was den beiden geblieben war. In einem Altenheim gab es nicht sehr viel Freude, kaum Abwechslung und noch weniger Grund zum Leben.
„Hast du den neuen Pfleger schon gesehen?“, fragte Trudi kichernd. Der Likör stieg ihr bereits ein wenig zu Kopf, sie war Alkohol seit der Hüftoperation nicht mehr gewohnt. „Ein lecker Mann, ist das! Jung, drahtig, humorvoll. Der weiß eine Dame noch mit Respekt zu behandeln. Und er hat mir gestern zugezwinkert.“
„Ihm ist etwas ins Auge geflogen“, spottete Elisabeth und nahm noch einen großen Schluck.
„Tze, so wie Erwin `79 nur etwas ins Age geflogen war?“
„Ach, Erwin! Der alte Bock hatte seine Hände doch unter jedem Mieder. Hatte der sein Kölsch und seine Salami war der doch schon im Hafen. Keine Ahnung von Frauen, der Mann. Immer nur am Herumhalodern, kein Wunder, dass er an einem Herzinfarkt gestorben ist.“
„Unter deinem Mieder war er nicht“, stellte Trudi fest, ohne mit Elisabeth Blickkontakt aufzunehmen. Sie wusste um das Risiko, das dieses Thema darbot.
Elisabeth schien eine Sekunde in Erinnerungen versunken, dann schmunzelte sie leicht. „Ja, weil ich damals Kopf gesagt habe und du Zahl“, meinte sie dann und kippte den restlichen Likör hinunter.

Kommentieren