Das Schneeschmelzesedativum (April 2007)
Das kräftige Blau des Fußbodens unterstützte die kalte Atmosphäre in dem Raum.

Dabei stimmte das gar nicht. Im Gegenteil, es war viel zu heiß hier! Schweißperlen rannen über seine Stirn, das weiße Leibchen klebte am Rücken wie eine zweite Haut, die sich nicht abhäuten ließ. Das musste man sich mal vorstellen! Ein kalt wirkender Raum mit brüllender Hitze darin! Wer sich so was nur einfallen lassen konnte. Bestimmt stammte das Konzept von einem ausländischen Architekten, einem dieser Maestros mit unaussprechlichem Namen und soviel Kreativität und Phantasie, dass es ihm schon wieder aus den Ohren herauskam. Der bestimmt in einem riesigen Loft wohnte und sich tausend verschiedene Frauen für tausend verschiedene Sexpraktiken mit abertausenden Orgasmen leistete. Solche machten solche Räume, kalt und heiß zugleich.

Er setzte sich in die Ecke und brütete vor sich hin. Der Gedanke an den Architekten war bereits wieder verflogen. Lange konnte er solche Ideen einfach nicht festhalten. Aber wenn sie kamen, dann kamen sie schnell und in Massen und dann mussten sie aufgeschrieben werden, denn Ideen und Gedanken waren wie der erste Schnee. Sie kamen unerwartet und brachten eine Ruhe mit sich, wie man sie all die Zeit vorher nicht kannte, aber man war meistens unvorbereitet und lang blieben die Ideen auch nicht liegen. Viel zu schnell waren sie dahin geschmolzen, als seien sie niemals da, sondern nur eine Einbildung gewesen. Deshalb musste man die festhalten, sie konservieren, damit sie nicht verschwanden bevor man sich auf sie eingestellt hatte.

Mit zittrigen Beinen stand er auf und ging an die Wand. Er lief oder stand nicht mehr viel. Seitdem er hier war, in diesem furchtbar heißen, kalten Raum, saß er viel lieber. Oder er lag. Starrte an die Decke, die keineswegs blau war, sondern weiß! Das muss man sich auch mal vorstellen! Ein Raum, quadratisch in seiner Form, mit einem einzigen Fenster, das nach Norden ging, mit einem undefinierbaren Farbton an den Wänden und einem von Scheuermitteln verschandelten Blau von Fußboden. Aber mit weißer Decke! Mit weißer Decke! Das war wie Schnee. Der ist auch weiß. Weißer Schnee an der Decke. Dabei liegt Schnee doch am Boden und der Himmel ist blau. Also genau anders herum! Das musste er sich auch notieren. Mittlerweile sagte auch keiner mehr etwas dagegen. Man hatte ihm sogar einen Stift gegeben. Der schrieb zwar nicht gut, aber immerhin konnte er damit überhaupt die flüchtigen Gedanken festhalten. Das Kühlfach für seinen Kopf.

Die Wand mit dem Fenster war deshalb nicht mehr undefinierbar, sondern von feinen schwarzen Linien durchzogen. Manchmal ganze Sätze, dann wieder nur einzelne Worte. Zeichnen hatte er auch wollen, aber das konnte er nicht. Schon damals in der Schule, hatte er in Kunst immer schlechte Noten mit nach Hause gebracht. Seine Mutter hatte geschimpft, dass er sich nicht anstrengen könne und dass er sie enttäusche. Sein Vater war gegangen. Seine Mutter später auch. Und deshalb auch er. Aber anders als seine Eltern. Darüber hatte er nie schreiben oder reden wollen. Er dachte nicht einmal oft daran. Die Erinnerung an seine Eltern und an das, was geschehen war im letzten Jahr, gehörte nicht zu seinem Repertoire, war fort, wie die Eltern und er auch. An seine kleine Schwester dachte er manchmal. Wie es ihr wohl ginge jetzt, so alleine und verlassen.

Plötzlich war ihm kalt. Der Schnee an der Decke und der Himmel auf dem Boden hatten gemeinsame Sache gemacht und die Kälte zu ihm gebracht. Er ließ den Stift fallen und wälzte sich auf dem Boden, um die Flammen zu ersticken, die die Kälte entflammt hatte. Er drehte sich schreiend und kreischend auf dem kalten Blau und es brauchte eine zweite Nadel, um ihn zu sedieren, da er die erste abbrach in seiner Angst.
Nächste Woche war der große Tag. Als das Blau, auf dem er nun lag, immer dunkler wurde und irgendwann alles nur noch schwarz war, dachte er daran, wie viele Winter er noch hier bleiben müsste, wenn der Richter entschied. Dann verloren sich seine Gedanken im Strudel des Schlafes.

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