Sonntag, 3. August 2008
Fernweh
Unsere Schätzungen belaufen sich auf ungefähr fünf Jahre. Vielleicht auch mehr. Zumindest ließ sie diese Zahl im Laufe des Tages fallen und ich wusste es nicht besser. So sind wir still auf fünf Jahre übereingekommen. In dem halben Jahrzehnt, das folglich hinter uns liegt, ist viel passiert. Frau Sanddorn war in Schweden und in Indien zum Praktikum und hat sich die Haare kürzen lassen; ich habe eine Ausbildung beendet, ein Studium begonnen und wieder abgebrochen, um erneut ein Studium zu beginnen und habe mir die Haare etwas länger wachsen lassen. Wir zusammen, das sind Haargeschichten und geballte Studienerfahrung. Frau Sanddorn muss trotzdem auf der Schattenseite des Lebens Platz nehmen, aus Angst vor Sonnenbrand. Ich hingegen streckte am heutigen Tage, dem Tag unseres Wiedersehens, meine Nase gen jeden Sonnenstrahl, den uns Berlin auf unserem gemeinsamen Weg hindurch zu schenken vermochte. Dieser begann an Zoologischen Garten, führte uns in ein Starbucks auf dem Kudamm (meines Erachtens der einzige Grund auch wirklich dort zu sein, denn außer Shopping gibbet da nüscht!) und zur Halbzeit schatten- bzw. sonnetankend in den Tiergarten.

Nachdem mich ein Obachloser als Spießer brandgemarkt und mir das Recht auf Tragen eines T-Shirt von den Ärzten aberkannt hatte ("Die Ärzte würd'n dir dit Ding vom Leib reißen, wenn se wüssten, was für'n Spießer in dir drinne steckt!"), weil ich ihm Kleingeld für ein Bier oder ein Eis ("Ick komm vorbei und zeeg dir dat ick dit gekooft habe, ehrlich!") verweigert hatte und noch davor Frau Sanddorn sich über ein Neubauhaus am Alex aufgeregt hatte, saßen wir mit zwei Bekannten seitens Frau Sanddorn im Friedrichshain, wo ich mir Auslandserfahrungen der Anwesenden erzählen ließ. Und je mehr da kam (Schweden, Indien, Bali, Thailand, Burma...), desto kleiner und heimatpositionierter fühlte ich mich.
So viele Menschen um mich herum sind bereits weit herumgekommen, haben Orte gesehen, die ich sonst in kurzen Reiseberichten bewundere, und ich fühle mich wie der Burner, weil ich es 600 Kilometer weiter innerhalb der deutschen Grenze gebracht habe. Bravo, Herr Nyxon! Dabei ist der Wunsch, Neues zu sehen iin mir genauso groß und verankert wie bei den vielen anderen, die es im Gegensatz zu mir, bereits vollbracht haben. Meine Sehnsucht zur Ferne beginnt im Kleinen mit der Sehnsucht zum Meer und wird größer mit jedem Schritt den ich tue. Ob ich direkt in einem anderen Land ein Jahr oder mehr verbringen könnte, weiß ich hingegen nicht. Zu groß ist meine Angst, in der Ferne die Kontrolle zu verlieren und nicht so leicht fortlaufen zu können, wenn sich Schwierigkeiten einstellen. Nicht, dass ich das überhaupt einmal getan hätte, aber mich beruhigt der Gedanke, dass ich es ganz leicht machen könnte, wenn mir danach wäre, solange ich in einer Reichweite zum Rettungsanker bin.
Was ich aber auch gesehen habe, was mir durch das viele Nachdenken im Laufe des Abends und auch durch ein Gespräch mit Frau Sanddorn in der S-Bahn aufgefallen ist, ist, dass ich mich langsam, sozusagen in kleinen Schritten, in die Ferne vortaste. Von Dinslaken nach Dortmund - 65 Kilometer. Von Dortmund nach Berlin - knapp 600 Kilometer. Nächstes Jahr, das spüre ich je sicherer ich hier in Berlin werde, muss es weitergehen. Was das konkret heißt, habe ich noch nicht in feste Vorstellungen gegossen. Aber wenn ich eines hasse, ist es Stillstand. Ich will mich im Leben bewegen. Mich entwickeln mit den Schritten die ich tue. Wachsen.

Am Alexanderplatz standen sie übrigens und haben einen "kostenlosen Stresstest" angeboten. Während wir so dasaßen und unseren Körpern Nahrung zuführten, führten sie, in rote Polohemden gekleidet, ahnungslose Passanten in die Lehre der Stressbewältigung ein. Ob sich die Menschen immer noch so bereitwillig auf die Hocker setzen würden, wenn sie es wüssten, fragte ich mich. Wenn statt "Dianetics" die dazugehörige Muttergesellschaft als Namensträger auf dem Werbebanner am Stand stehen würde?
Dianetics e.V. ist eine Unterorganisation von Scientology.

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