Dienstag, 3. Juli 2007
Das normale Leben
Ich musste Frau Bluetenstaub damals um etwas Geduld bitten, aber nun ist es vollbracht. Dass es längere Zeit in Anspruch genommen hat, liegt nicht am Buch, sondern am einfachen Umstand, dass ich gerne abends im Bett meine Bücher lese und zu mancher Zeit totmüde war. Soweit die Entschuldigung, weshalb es mit diesem Buch so lange gedauert hat. Noch dazu ist es keine leichte Kost, zu schwer liegen die kleinen Wahrheiten im Magen.

"Das normale Leben" von Dieter Wellershoff ist eine Bibel, bestehend aus zehn eigenständigen Erzählungen. Die Bibel für die Menschen unter uns, die wissen, dass die Erfindung Liebe nie einfach und nicht immer konsequent ist. Wellershoff Charaktere zeichnen ein Bild der "Kontextenthobenheit - was für ein hochtrabendes, abstraktes Wort für Alleinsein, Einsamkeit, Isolation" (Episode), auch wenn sie gar nicht allein sind. Die Erzählungen, angeordnet in der chronologischen Reihenfolge ihres Erscheinungsjahres, aber bestimmt nicht nur zufälligerweise ebenso in chronologischer Reihenfolge einer Liebesgeschichte, zeigen sehr viel Weisheit und Erfahrung in Sachen Liebe, Beziehung und Schmerz. "Kleine Schmerzen sind ein Existenzbeweis" stellt einer der Charaktere ziemlich am Ende fest (Der Rückzug). Zuvor begleiten wir eine Studentin durch ihre Affäre mit einem älteren, verheirateten Mann (Graffito), ein Paar in die Oper (In der Oper) oder auf ein Fest des Golfclubs (Das Sommerfest). Der Protagonist in der titelgebenden Erzählung "Das normale Leben" scheint am kontextenthobensten zu sein, auf den ersten Blick. Seltsam, dass gerade diese Geschichte mich am wenigsten überzeugt hat.

Das Leben miteinander wird in diesem Buch oft wie eine Verpflichtung, wie ein Fluch dargestellt, zuletzt auch wie "ein lästiger Zwang, dem man unversehens nachgab, so wie man unwillkürlich mit der Zungenspitze immer wieder über eine wunde Stelle im Zahnfleisch fährt." (Das Sommerfest)
Sei es in der Zeit des Wartens, in der die Gefühle zum anderen noch unklar sind oder mitten im Leben. Oft wirken die Paare, die im Zenit ihrer Liebe stehen geradezu lethargisch. Der Höhepunkt der Liebe geht bei Wellershoff einher mit dem Tiefpunkt des Lebens. Einer seiner Charaktere spürt, "wie Lustlosigkeit ihn anwehte. Das graue Einerlei, das seit Jahren die Hintergrundfarbe seines Lebens war. Nein, er haderte nicht damit. Das graue Einerlei war keine bedrohliche Szenerie, eher die Farbe der Alltäglichkeit und des Gleichmuts und ja, eher gewissen Trägheit, die für ihn typisch war." (Episode) Auch in diesen Momenten, in denen man Wellershoff unterstellen mag, er sei ein elender Pessimist und Misanthrop lässt er seinen Charakteren nie die Hoffnung verlieren. Er gibt den Menschen "eine [...] reservierte Leerstelle" in ihren Köpfen für die geliebten und herbeigeträumten anderen "in der sie [...] zu einem abstrakten Symbol der unendlichen Möglichkeiten" werden können, "die das Leben bereithält und in der Regel verbarg." (Das normale Leben)

"Das normale Leben" aus der Sicht Wellerhoffs zeichnet sich durch die unendliche Suche nach Liebe und Geborgenheit, aber auch durch Herzschmerz und Verrat aus. Nie lässt er seine Schöpfungen zur Ruhe kommen, geschweige denn das Glück finden. Es ist ein steter Kampf, den Mann und Frau gegeneinander und auch miteinander ausfechten. Kämpft der Mann um seines, kämpft auch die Frau "um ihr Leben, denn es hängt mit seinem zusammen" (Das weiße Handtuch) und anders herum.
Sämtliche Erzählungen haben einen tieftraurigen, depressiven Unterton, denn keiner kommt hier auf seine Kosten. Kurzweiliger Spaß lernen sie nur durch Affären und Betrug kennen, die Liebe zwischen Mann und Frau wird mit einer langsam fortschreitenden Krankheit gleichgesetzt. Gleichwohl lässt Wellershof Platz für kleine Hoffnungsschimmer. Er zeigt Momentaufnahmen des Lebens, nie die ganze Episode. Wie sich Lug, Trug und Schmerz auswirken, wird höchstens angedeutet und lässt genügend Spielraum, um auch den Optimisten unter den Liebenden eine Chance zu geben.
Die Grundaussage aber ist klar: "Alles funktionierte. Alles war wie immer. [...] Draußen dann die Stadt, die Lichterreklame, der Verkehr. Und Schweigen. Wie ein Urteil, das vollstreckt wurde." (In der Oper)

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